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Malte Roepers offener Brief an Bruce Springsteen

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Heckmair, Caldwell und die Werte des Rock’n Roll

Wie viele meiner Mitmenschen verfolge ich das Geschehen in den USA mit Fassungslosigkeit, Angst und Abscheu: vor jenem Widerling im Weißen Haus, den führende Psychiater offen als psychisch krank und gefährlich einordnen. Da ich der Ansicht bin, dass jeder etwas tun kann und jammern wenig hilft, versuchte ich mich an einer zumindest symbolhaften Aktion: in einem offenen Brief wollte ich vor Kurzem mein Rock-Idol Bruce Springsteen bitten, Stellung gegen diesen idiotischen Unhold zu beziehen. Springsteens Stimme besitzt in den USA großes Gewicht und er hatte bislang geschwiegen. Nun rechnete ich mir wenig Chancen aus, seine Haltung zu ändern. Da mir aber nichts anderes einfiel, was ich persönlich tun könnte, begann ich zu schreiben: offenkundig nutzlos, aber nicht sinnlos, ein bisschen wie eine Bergtour also … um dann zu erfahren, dass der ‚Boss‘, wie sie ihn in den USA nennen, wunderbarerweise plötzlich doch gegen Trump Stellung bezogen hat. Im kleinen Rahmen seiner eigenen Radiosendung, dafür aber unmissverständlich. Den Text wie geplant als offenen Brief im Rolling Stone zu publizieren, hat sich damit erübrigt.

Da ich mich in meiner Argumentation an den ‚Boss‘ nicht zuletzt auf meine Erfahrungen in den Bergen beziehe, gebe ich den Text an alpinen Medien weiter. Da er für die Printausgaben in keine Rubrik passt, kostenlos für die Online-Ausgaben sowie allen, die ihn auf sozialen Medien oder in anderer Form veröffentlichen wollen.  

Offener Brief an Bruce Springsteen

Lieber ‚Boss‘,

bitte nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, es ist wichtig: Ich möchte Ihnen die Geschichte von Andreas ‚Anderl’ Heckmair erzählen, dem coolsten Bergsteiger, den es in Deutschland je gab. Es geht dabei auch um Sie und Ihre Musik und um nichts weniger als den großen Gleichklang von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Ich wuchs Bad Schwartau auf, einer todlangweiligen Kleinstadt in Norddeutschland. Jedes Wochenende trampte ich dreihundert Kilometer an die nächsten Felsen (ich war Kletterer und bin es noch), die Autobahn nach Süden war mein Weg in die Freiheit. Irgendwann lief in unserem Schwarzweißfernseher ein Konzertausschnitt von Ihnen, ich fuhr in die Großstadt und kaufte die Platte. Drehte die Anlage in meinem kleinen Zimmer auf Anschlag und wusste, dass mein Leben, die Welt, die Zukunft, alles, ja: ALLES anders und besser würde. Weil diese Songs existierten. Bislang hatte ich nur gehofft, irgendwann aus Bad Schwartau hinaus zu kommen und ein Leben voller Aufregung und Gefahren zu führen. Nun hatte ich Gewissheit:

The dogs on Main Street howl
‚Cause they understand
If I could take one moment into my hands
Mister I ain’t a boy, no I’m a man

and I believe in a promised land


Ich wuchs in der linken Szene auf, in meinem Umfeld war und blieb Amerika immer unpopulär: Vietnamkrieg, Watergate, Nachrüstung, Ronald Reagan, George Bush. Amerika war aber verdammt nochmal immer auch das Land von Bob Dylan, Joan Baez, den Ramones und den Doors, Janis Joplin, Patti Smith, und, klar, Ihnen. Man sollte eine Art Muttertag für euch amerikanische Künstler einführen, aus Dankbarkeit und Anerkennung.

Anderl Heckmair, von dem ich Ihnen berichten will, stammt wie Sie aus der Arbeiterschicht. Er kommt 1913 in München zur Welt. Der Vater fällt im ersten Weltkrieg, Heckmair wächst im Waisenhaus auf und findet als Jugendlicher zum Bergsteigen. Bis vor dem Krieg war das eine Angelegenheit von Akademikern, nun gibt es die Münchner ‚Arbeiterbergsteiger’, die die Freiheit der Berge auch für Ärmeren erobern. Heckmair fährt hunderte von Kilometern mit dem Fahrrad in und durch die Berge, klettert so viel wie möglich, besitzt zeitweilig keinen festen Wohnsitz. 1938 wird er berühmt durch die erste Durchsteigung der Eigernordwand, der letzten großen, unbezwungenen Wand der Alpen. Die ersten sechs, die es versucht haben, sind alle in der 1800 Meter hohen „Mordwand“ gestorben. Als es gelingt, sind sie zu viert: Heckmair, Ludwig ‚Wiggerl’ Vörg und die Österreicher Fritz Kasparek und Heinrich Harrer, der später den heutigen Dalai Lama unterrichten wird.

Als die vier Bergsteiger ins Tal zurück kehren, liegt der „Anschluss“ Österreichs erst wenige Monate zurück, nun hat ein Quartett aus Deutschen und Österreichern gemeinsam den Drachen bezwungen. Und zwar unter deutscher Führung, denn Heckmair ist in den entscheidenden Passagen vorausgestiegen. Für die NS-Propaganda leider eine Steilvorlage, man lädt die Vier ein nach Berlin. Am liebsten zeigt sich Hitler, logisch, mit Heckmair, fährt mit ihm im offenen Wagen durch die Menschenmengen, winkt neben ihm vom Balkon. Heckmair besitzt wenig mehr, als in seinen Rucksack passt, ist so unpolitisch, dass er später den unglücklichen Satz formuliert: „Ich verstand gar nicht, warum der Hitler von uns so begeistert war, der war ja eher unsportlich.“

Aber natürlich dämmert ihm irgendwann, wer ihn hier vor seinen Karren spannt. Während einer Rede des Diktators wird ihm schlagartig klar, dass der auf den Krieg zusteuert. Unauffällig verlässt er den Tisch und kehrt nicht zurück. Noch immer ein eigentlich unpolitischer Mensch, zeigt er mehr Haltung als all jene, die später irgendwas vom ‚inneren Exil’ herumschwurbeln. Als ‚politisch unzuverlässig’ landet er an der Ostfront, wo sein Seilpartner Vörg 1941 fällt. Nach Kriegsende gelingt den Franzosen Lionel Terray und Louis Lachenal die zweite Begehung der ‚Mordwand’, über seine Route natürlich, sie heißt bis heute nach ihm. Heckmair gratuliert per Telegramm, Terray und Lachenal laden ihn ein. Er kann aber nicht kommen, weil es in Nachkriegsdeutschland kaum genug zu essen gibt. Die zwei Franzosen schicken, zwei Jahre nach Kriegsende, dem Deutschen ein Fresspaket. Welch eine Verbrüderung der kleinen Leute.

Verbrüderung, Brüderlichkeit, ist das nicht auch immer ein Thema Ihrer Songs? Wir alle haben Träume, die leider allzu oft nicht in Erfüllung gehen, aber mei, was wäre das Leben ohne die Sehnsucht? Und darin sind wir alle gleich, so in der Art? Auf der Bühne machten Sie den Saxophonisten Clarence Clemons zu Ihrem Buddy, indem Sie nicht irgendwo hinten platzierten, wo die Bläser normalerweise stehen, sondern vorn und neben sich. Clemons war ein gutmütiger Bär und damit ein naheliegender Gegenpol zu Ihnen als drahtigem Energiebündel. Er war farbig und das Ganze, wie es in Ihren Memoiren ‚Born tun Run‘ steht, nicht gedacht als politisches Signal. Eine politische Wirkung hatte das in den 70er Jahren natürlich trotzdem. Es muss nicht immer Black Power sein, man kann ja einfach mal sagen, die Hautfarbe ist mir auch nicht wichtiger als die Farbe der Gitarre. Welch eine Verbrüderung. Und Brüderlichkeit, das ist verdammt schwer unterschätzter Wert! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das ist nur miteinander denkbar.

Falls Sie die wunderbare Dokumentation Dawn Wall gesehen haben, wissen Sie, dass es im Grund auch die Werte des Alpinismus sind. Der großartige Kletterer Tommy Caldwell kehrt nach jahrelangem Ringen und 14 Tagen in der Wand kurz vom Gipfel um und weigert sich auszusteigen, bevor nicht auch sein Buddy Kevin Jorgeson alles so geklettert hat, wie sie es sich gemeinsam vorgenommen haben. Caldwells Brüderlichkeit bewirkt, dass sie als Gleiche aussteigen und miteinander frei sind von dem jahrelangen Druck, den sich auferlegt haben. In Deutschland gab es jene sächsischen Kletterer, die schon vor dem Mauerbau in den Westen gegangen waren und nach dem Mauerbau ihr Leben und ihre Freiheit riskierten, um ihren Kameraden bei der Flucht zu helfen.

In welchem Ausmaß auch die großen Rocksongs immer wieder für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit stehen, begriff ich erst während des Corona-Lockdowns. Ich begann mit meinen Kindern einen täglichen Videocall, den wir Rock’n Roll High School nannten: die Geschichte von Rock und Pop, jeden Tag einen Song und den dazugehörigen Künstler oder Künstlerin anhand eines Youtube-Videos. Wenn man auf diese Art die Musikgeschichte durchforscht, wird einem unwiderlegbar klar, wie viel Selbstbewusstsein, Erfolg und Sex-Appeal Künstler wie Little Richard und Otis Redding in den Kampf gegen die Rassentrennung einbrachten und wie groß der Sieg am Ende für ALLE war. Wie selbstverständlich Ikonen der LGBT-Bewegung wie die Village People oder Freddie Mercury Stars für ALLE Menschen sind. Welch großartige Botschaft das Comeback von Tina Turner nicht nur für Frauen über vierzig bedeutete, sondern: für ALLE.

Eine wichtigste Entscheidung in meiner Rock’n Roll High School war natürlich die Auswahl des richtigen Springsteen-Videos; ich wählte Promised Land, The River Tour, Tempe 1980. Sie spielen mit einer Intensität, dass man an eine Wunderkerze denken muss, die an beiden Enden brennt und sich wundert, dass Sie mit dem Ende des Songs nicht schlichtweg erlöschen. Dazu dieses ungewöhnlichen Triple drei aufeinander folgender Soli: Steve van Zandt, der später als Schauspieler in den Sopranos brillierte, an der E-Gitarre, Clarence Clemons mit dem Goldstandard eines Saxophonsolos, Sie an der Mundharmonika. Drei Soli für ein Halleluja, vielleicht auch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Drei Soli am Stück, wie kamen Sie auf die Idee? Wissen Sie’s? Und ach ja, bei Minute 1.15 lächelt Clemons so selig, das ist besonders schön.

Die Verheißung Ihrer Songs, die ich meiner Jugend hörte, erfüllte sich für mich: ich verließ meinen Geburtsort und fand mein Abenteuer und meine Erfüllung – erst in den großen Wänden, dann schrieb ich Bücher und drehte Filme über das, was liebe, das Bergsteigen: Well, I got this guitar and I learned how to make it talk. Und meine Ehe scheiterte genau wie Sie es in The River beschreiben, genau wie bei so vielen anderen auch. Wenn im Alltag die romantischen Anfänge einer Liebe nicht mehr am Leben bleiben, dann ist es vorbei: Now I act like I don’t remember / and Mary acts like she don’t care. / Is a dream a lie if it don’t come true / or is it something worse? Ihre Songs waren immer dabei, zuhause und vor allem im Auto.

Sie wurden in all den Jahren immer größer, ein Volkskünstler, einer aus dem Volk und ein Teil des Volkes, gehört von jung, alt, arm, reich, rechts links, Männern, Frauen. In Ihren Memoiren schildern Sie, wie Sie einen Freund ihres Sohnes kennenlernen und denken, der ist so jung, der kennt mich wahrscheinlich gar nicht, herrlich, das wird ein entspannter Abend. Und dann trägt er eine Songzeile von Ihnen als Tattoo auf dem Arm.

Zurück zu Heckmair. In den 50er Jahren war er Privatbergführer für einen der reichsten Männer der Welt, Otto-Ernst Flick. Dem er vorab erklärte, dass der am Berg zu gehorchen habe, sonst  würde das nichts. Danach betreute Heckmair Gruppen des Jugendherbergswerks – Erlebnispädagogik heißt das heute – mit so großen Erfolg, dass man ihm dafür das Bundesverdienstkreuz verleiht. In seinen Memoiren taucht diese Auszeichnung nicht auf. Warum? Da hat er, der im Waisenhaus aufwuchs, beim Schreiben nicht dran gedacht, erklärte er mir, als ich ihn zuhause besuchte. Kann man Autoritäten grandioser negieren, als sie sie schlicht zu: vergessen? Heckmairs großer Weg am Eiger ist eine der bekanntesten und begehrtesten Kletterrouten der Welt, seine größte Tat war aber der Moment, als er sich von dem Tyrannen entfernte.

Ihre Motive, Mr. Springsteen, sich aus der Tagespolitik herauszuhalten, könnten edler kaum sein: Natürlich hat die Kunst über dem heillosen tagespolitischen Geschacher um Proporz, Prestige, Moneten und Macht? Politiker kamen und gingen, die großen Songs blieben bestehen (‚The song remains the same‘, hieß es bei Led Zeppelin). Aber es geht längst nicht mehr um Tagespolitik. Die USA erleben einen furchterregenden Niedergang. Die Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurden zwar nach außen auch immer mit einiger Scheinheiligkeit eingefordert, aber sie wurden eben verdammt noch mal eingefordert und auf zumindest symbolhafter Ebene hochgehalten. Der Mann im Weißen Haus – ihn ‚Präsidenten‘ zu nennen, wäre eine unangemessene Beleidigung für seine Vorgänger und andere Amtsinhaber – tritt diese Werte und alles, was man an Amerika lieben musste, in die Gosse. Er regiert wie ein Mafiaboss, demontiert die Institutionen, lügt wie gedruckt und forciert Hass, Rassismus, Zwietracht, Gewalt.

Ich bitte Sie, über Heckmair nachzudenken: für ihn war es nicht möglich, unpolitisch zu bleiben. Ist es heute in den USA möglich, unpolitisch zu sein? Ist Schweigen nicht zu nah dran am Dulden und Hinnehmen? Und damit am Akzeptieren eines Mannes, der so vieles zerstört, was man an Amerika lieben muss und was die Welt auch von Amerika wieder benötigt? Ihre Stimme hat Gewicht. 

Da Sie nie am Tisch dieses Unholds saßen, konnten Sie nicht aufstehen und gehen. Aber als ein Mitbürger der zivilisierten Welt bitte ich Sie, dass Sie aufstehen, Ihre Stimme erheben und Stellung beziehen. Heckmair hat die Geschichte nicht ändern können, nur seine eigene. Ihre Stimme jedoch hat so viel Gewicht, dass Sie es schaffen könnten, zur Abwahl dieses Unholds beizutragen. Für die Werte, die wir alle teilen und die im Alpinismus dieselben sind wie im Rock’n Roll: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Herzlichst aus Oberbayern,

Malte Roeper

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Der Autor: Malte Roeper, Jahrgang 1962, kletterte die Eigernordwand als erster Deutscher im Alleingang. Er lebt als Dokumentarfilmer und Buchautor in Traunstein, Oberbayern.

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Lieber Malte, die IG dankt Dir für Deine klaren tiefsinnigen Worte!

Mehr über Maltes kreative Arbeit findet ihr auf seiner Seite

https://www.malteroeper.de/

1 Comment
  • Heinz Buchmann
    Posted at 21:44h, 12 August

    Hallo IG-ler,

    Sorry wenn Ihr diesen Brief als tiefsinnig bezeichnet, dann habe ich leider das Gefühl, ihr habt ihn nicht gelesen.Ich habe überhaupt keine Absicht Trump zu verteidigen – wieso auch. Aber wenn Malte hier suggeriert, dass Heckmair mit dem Aufstehen vom Tisch Hitlers etwas tut, das dem Aufstehen vom Tisch Trumps gleichsteht, dann ist das mehr als zynisch. Auch wenn Malte es sicherlich nicht wollte, aber hier erhöht er Hitler auf das Niveau eines demokratisch gewählten Präsidenten. Das ist Wasser auf die Mühlen der Nazis. Wie soviele vor ihm macht er hier einen politischen Fehler – und ihr veröffentlicht das. Ich freue mich wenn die IG politisch wird – aber nicht irgendwie rechtsradikales Gedankengut unterstützen. Malte wollte das sicherlich nicht – aber als Politiker müsste er zurücktreten,!! Solche Fehler sind unverzeihlich. Berg frei Heinz

    PS – ich habe Malte gestern bereits angeschrieben.

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